von Roger Blum und Jan Seifert
Tauchen in Deutschland
Das geheimnisvolle Grab am Nebelsee
Der Absturz einer bemannten V1 im Nebelsee und das Ende des Reichenberg-Projekts
Der Nebelsee machte heute seinem Namen alle Ehren. Der langgestreckte See an der Grenze zwischen Brandenburg und Mecklenburg hüllte sich in Frühnebel. Am südwestlichen Ufer fanden wir versteckt im Wald ein unscheinbares Grab mit der Aufschrift „Walter Starbati“. Es wird berichtet, dass es sich um das Grab des Piloten einer bemannten Flugbombe Fi 103 - besser bekannt unter der Propagandabezeichnung V1 – handeln soll, die hier gegen Ende des 2. Weltkriegs in den See gestürzt sein soll. Was ist dran an dieser Geschichte?
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Tatsache ist, dass im Frühjahr 1944 an der Idee sogenannter „Selbstopfereinsätze“, ähnlich den japanischen Kamikaze-Piloten, gearbeitet wurde. Die am schnellsten zu verwirklichende Lösung bestand darin, die V1 mit einem Piloten zu besetzen. Die Urheberschaft für diese Idee beanspruchten sowohl Hanna Reitsch als auch Otto Skorzeny.
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Mit der Führung der technischen Vorbereitungen wurde der Fliegerstabsingenieur Heinz Kensche von der Abteilung Flugzeugentwicklung im Technischen Amt des Reichsluftfahrtministeriums beauftragt. In der Sitzung der Luftfahrt-Forschungsakademie am 27. März 1944 referierte er zur technischen Entwicklung der bemannten Gleitbombe. Im Mai 1944 erhielt der technische Direktor der Fieseler Flugzeug-Werke, Herr Dipl.-Ing. Robert Lusser, den Auftrag, die Fi 103 zu einer bemannten Version umzubauen. Die notwendigen Arbeiten wurden an die Henschel-Flugzeugwerke nach Berlin-Schönefeld vergeben. Flugkapitän Dipl.-Ing. Fiedler, Konstrukteur und Werkspilot bei Fieseler, übernahm die Projektleitung. Seine Entwicklungsgruppe führte die Tarnbezeichnung „Segelflug Reichenberg GmbH“ und siedelte sich in den Henschel Flugzeug-Werken in Schönefeld an.
Für den Umbau der V1 zu einer bemannten Version standen Teile aus der laufenden Fertigung zur Verfügung. In Schönefeld wurden auch die entsprechenden Schulflugzeuge entwickelt. Die ersten umgebauten Fi 103-Zellen mit dem Decknamen „Reichenberg“ standen – noch ohne Triebwerk – im Spätsommer 1944 zur Erprobung bereit.
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Der erste Prototyp einer bemannten Fi 103, der unter dem Firmennamen “Reichenberg” als Re 1 bezeichnet wurde, startete Ende August 1944 von einer Heinkel He 111, die die Flugbombe auf Höhe schleppen musste. Der Versuch fand auf der Luftwaffen-Versuchsstelle Lärz-Rechlin statt. Zuvor war die Fi 103 als ferngelenktes Geschoss bei der Erprobungsstelle Peenemünde-West bearbeitet worden. Da die Fi 103 nun bemannt war, kam sie – quasi als „Flugzeug“ – in den Verantwortungsbereich der Erprobungsstelle Lärz-Rechlin, die sich nur wenige Kilometer vom Nebelsee entfernt befand. Der Pilot des ersten Prototyps unbekannt, vermutlich war es Fieseler-Testpilot Willy Fiedler. Die Maschine hatte kein Triebwerk, sie flog als Gleiter. Nach sechs Minuten landete die Re 1 glatt. Beim zweiten Flug an diesem Tag durch den Rechliner Versuchsflieger Rudolf Ziegler wurde die Maschine bei der Landung zerstört und Ziegler schwer verletzt. Die nächsten beiden Versuchsflüge erfolgten durch Rechliner Piloten.
Diese Prototypen verfügten jetzt über ein Triebwerk (Re 2). Die Re 3 war mit und ohne Antrieb ausgestattet und für eine 2-Personen-Besatzung ausgelegt. Die als Re 1 bis Re 4 bezeichneten Versuchsflugzeuge unterschieden sich zum Teil erheblich. Unter dem Kommando von Werner Baumbach des Kampfgeschwaders 200 wurde eine kleine Einheit von Reichenberg-Piloten geschult, doch zu einem Fronteinsatz kam es nie.
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Leutnant Walter Starbati – dessen Grab wir am Nebelsee fanden – war zur fliegerischen Erprobung und als Einflieger der Reichenberg nach Lärz-Rechlin abkommandiert worden. Zuvor war er Chefpilot der Luftschiffbau Zeppelin-Werke in Friedrichshafen und dort unter anderem an der Entwicklung des Riesenfliegers Messerschmitt Me 323 „Gigant“ beteiligt.
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Walter Starbati (Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Hans-Peter Dabrowski)
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Bekannt sind Flüge Starbatis mit Re 3, Werksnummer 10, bzw. R 4-10. In einer Re 3 kam Walter Starbati am 5. März 1945 bei einem Übungsflug ums Leben, nachdem sich kurz nach der Trennung vom Trägerflugzeug die beiden Tragflächen der Reichenberg lösten. Als Absturzursache wurde „Absturz nach Lösen der Tragflächenbeplankung“ angegeben. Der Unfallbericht beschreibt in nüchternen Worten den tragischen Vorgang:
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„Das Flugzeug Reichenberg Re 3 mit verkürzten Flächen befand sich um 16.58 Uhr nach normalem Start im Steigflug in etwa 2.800 m Höhe. Die Geschwindigkeit lag zwischen 400 und 500 km/h. In einer schwachen Linkskurve brachen nacheinander beide Flügel ab… Das Flugzeug ging mit laufendem Triebwerk in einen fast senkrechten Sturz über, ohne dass es dem Flugzeugführer gelang, nach Abwurf der Führerseitzverkleidung, das Flugzeug zu verlassen…“.
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Der Unfall war Anlass die Entwicklung der bemannten Flugbombe nicht weiter zu verfolgen und die Einheit aufzulösen. Im Kriegstagebuch der Amtsgruppe Flugzeugentwicklung bei ChefTLR am 15. März 1945 ist vermerkt: „Auf Weiterarbeit an den Re-So-Flugzeugen wird nach letztem Unfall auf Vorschlag von Fi-E von KG 200 und Führungsstab verzichtet.“
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Grab von Walter Starbati am Nebelsee
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Die Geschichte von der bemannten V1 im Nebelsee ist also wahr. Die Wrackreste befinden sich weiterhin auf dem Grund des Sees.
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Text/Fotos: Roger Blum und Jan Seifert
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Quelle/Literatur:
Heinrich Beauvais/Karl Kössler/Max Mayer/Christoph Regel, „Die deutsche Luftfahrt – Flugerprobungsstellen bis 1945“, S. 135f.
Horst Materna, Die Geschichte der Hentschel Flugzeugwerke in Schönefeld bei Berlin 1933 – 1945, Verlag, Rockstuhl, S. 272.
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